Samstag, 9. März 2013

"Albtraum Erziehungsheim"


 Buchtipp von Harry Popow

Ab ins Erziehungsheim! Und gnade dir Gott! Wohl kein Erziehungsheim auf der Welt, das als Paradies bezeichnet werden könnte. Aber gleich das ganze Gegenteil? Wer jenen Ort als Hölle bezeichnet und versucht, durch Selbstmord zu entfliehen, der hat Schlimmes erlebt. Hut ab vor Dietmar Krone. Er hat es erleben müssen. Er hat überlebt. Und das in den 50er und 60er Jahren im aufsteigenden deutschen Wirtschaftwunderland BRD.

Er hat seine Höllenfahrt nach langem Zögern aufgeschrieben, seine Kindheits- und Jugenderlebnisse in seinem Buch „Albtraum Erziehungsheim“. Nochmals -Hut ab vor seinem Mut, seine Leidensgeschichte der Öffentlichkeit preiszugeben. Und er hat es gut gemacht. Mit einfachen Sätzen spricht er Klartext, ohne stilistische Feinheiten. Das, was er auf 145 Seiten schildert, lässt den Leser erschauern, er wird gerührt sein, er wird in Wut geraten über unglaubliche Kindesmisshandlungen. Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Und dennoch, angesichts von aktuellen Schreckensnachrichten über Gewalt gegenüber Kindern, ob von Eltern oder sogenannten Erziehern und Pädagogen verübt, lässt es eine Spur der seelenlosen Kälte gegenüber den Mitmenschen erkennen.

Der Autor legt bereits im Prolog zukünftigen Eltern, Erziehern und Pädagogen ans Herz, nicht die Fehler zu begehen, die in der Vergangenheit einst ihre Vorgänger gemacht haben. Und der 1954 geborene Dietmar, der als dreizehnjähriges Kind Erniedrigungen erfahren mußte, verpasst der Gesellschaft ein gewaltiges Tor mit dem Satz: „Ohne gewissenhafte Überprüfung wurden in den Ämtern oft Denunzianten, moralpredigenden Fürsorgeschwestern und anderen Intriganten mehr Glauben geschenkt als einem unschuldigen Kind.“ Als sein Vater mit 52 Jahren starb, sagte der Pfarrer am Grabe die reinste Unwahrheit, indem er ihn als treu sorgenden Familienvater bezeichnete. Diese Heuchelei und diese dreiste Lüge schockierte und schmerzte den Jungen.

Womit der heute 59jährige seinen kritischen Blick von vornherein auch auf die Gesellschaft richtet. Ist sie es doch, die auch heute noch weitgehend den Nährboden bietet für den Kampf eines jeden gegen jeden, mal offen und brutal, mal versteckt hinter Lügen und Intrigen. Du bist dir selbst der Nächste! Schließlich sei jeder selber schuld, nicht zu den Reichen zu gehören. Du selbst bist für dich verantwortlich. Mach was aus dir. Der amerikanische Autor Joe Bageant schreibt in seinem Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ auf Seite 40/41: „Die konservativen Republikaner … machen viel Tamtam um Konzepte wie ´persönliche Verantwortung´ und ködern damit die Jungs und Mädels…“ Menschliche Wesen seien „Wettbewerber  in einem übergeordneten Wirtschaftssystem; der Markt ist das neue Olympia, wo sich ´Homo oeconomicus´tummelt; …“ Wie in den USA so auch in Deutschland: Der freie Markt filtert den würdigeren Wettbewerber aus der Masse heraus. Die menschliche Kälte, sie entspringt der gewollten Hetzjagd nach Überleben, nach Geld, nur wer sich wehrt, wer andere tritt, kann nach oben kommen. Es ist die Schattenseite des damaligen Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik, und die inneren Zwänge sind längst nicht aus der Welt – ganz im Gegenteil.

Zurück zum Erlebnisbericht des Dietmar Krone: Der Vater – regelmäßig betrunken und den Jungen oft grundlos schlagend. Die Mutter, eine ehemalige BDM-Führerin, – das unerwünschte Kind nicht liebend und ebenfalls prügelnd und verstoßend, die späteren Liebhaber der Mutter eingeschlossen. Sie konnte nicht wirtschaften, schreibt der  Autor, und deshalb stand nach nicht beglichenen Kreditraten der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Oft verbringt der Sohn seine Zeit bei der Großmutter oder in einem Kinderheim. Wenn er Hilfsarbeiten erledigen mußte – mitunter 13 Stunden am Tag - , um etwas Geld zu verdienen, nahm die Mutter es ihm abends wieder ab. Manchmal gab man ihm keinen Lohn, da gab es erst recht Prügel. "Du mußt erstmal deine Windeln bezahlen", fuhr sie ihn an. Im Winter saßen sie oft in einer kalten Wohnung, und der Junge mußte bei Nachbarn um Kohlen betteln. Mit knapp 12 Jahren bricht er auf Grund schwerer Fensterputzarbeiten in einem Möbelgeschäft zusammen. Die Folge: Krankenhaus, Nervenklinik, die Fürsoge schaltet sich ein. Doch der Geschäftsführer streitet schwere körperliche Arbeit ab. Muß er, denn Kinderarbeit ist verboten. Dem asozialen und verkommenen Lügner aber dürfe man nicht glauben.

Der sich nach menschlicher Wärme Sehnende lernt einen Mann in religiösen Kreisen kennen, der sich seiner annimmt und ihm ein guter Freund wird. Was macht die Mutter? Sie alarmiert die Polizei, der Junge habe Beziehungen zu einem Kinderschänder. Man glaubt ihr, befragt aber nicht den Jungen. Der Mann verliert seinen Arbeitsplatz und kommt ohne gründliche Prüfung ins Gefängnis. Die Verbitterung bei dem Jungen ist groß. Er hat nun niemanden, an den er sich vertrauensvoll wenden kann. Kein Wunder – die Fürsorge wird gerufen und Dietmar muß ins Jugenderziehungsheim Viersen-Süchteln. Bis zum 21. Lebensjahr. Nun ist er endgültig gestempelt. Ein jugendlicher Krimineller.

Das autoritäre Regime im Erziehungsheim wird von einem ehemaligen HJ-Führer geführt. Bei kleinsten vermeintlichen Verstößen werden die „verwahrlosten“ Kinder in eine Dunkelzelle gesperrt. Zehn Tage Einzelhaft bei Wasser und trocken Brot. Ob im Heim oder kurzzeitig in der Psychiatrie ist unter dem altbekannten Motto „Zucht und Ordnung“ an der Tagesordnung: Ohrfeigen, Handschellen, Psychoterrorr, mit Zahnbürsten den Flur schrubben, Rohrstockhiebe und Tritte mit dem Fuß in den Rücken, Unterschlagung sämtlicher privater Briefe, Schikanen, Entengang, keine Aus- und Schulbildung, Liebe heuchelnde Pfarrer, die der Heimleitung alles verraten, was die Kinder ihnen erzählt haben. Demütigende entwürdigende Behandlung, die letztendlich zur weiteren Verrohung statt zur Hilfe für die Kinder führt.

Dietmar Krone spürte damals, dass die Erzieher keinerlei Richtlinie für die Erziehung hatten und ganz und gar nach subjektivem Empfinden und Wutausbrüchen handelten. Mehr noch. Er geißelt die Züchtigung der Kinder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er bezichtigt jenen Lehrer der Verdummungsabsicht, der im Religionsunterricht davon schwafelte, dass alle Kinder nach dem Sterben ins Paradies kommen. (Das hätte er sich beizeiten gewünscht, um endlich nicht mehr geschlagen zu werden und immer genug essen zu können, so der Autor.) Wörtlich auf Seite 71: „Erstaunlich, wie man sich doch an alte Sitten und Bräuche hielt. Sitte und Ordnung, statt Schuld und Verantwortung. Alle Erzieher hatten ihr menschenverachtendes Wissen in der Zeit des Nationalsozialismus erlernt. Das Gedankengut aus dieser Zeit steckte noch voll in ihren Köpfen.“

Sein Fall sei kein Einzelfall, schreibt Krone. In den 50er und 60er Jahren habe es in der Bundesrepublik nach Schätzungen eine halbe Million Heimkinder gegeben, die unter ähnliche Bedingungen „erzogen“, drangsaliert und gedemütigt wurden. Und heute? Die Kapital-Elite führt weiter kräftig Regie und kennt unter der gegenwärtigen Krise immer weniger Pardon gegenüber den Armen, was der frisierte Armutsbericht der Bundesregierung erneut beweist. Es bleibt kalt - für die Hartz-IV-Empfänger, für alleinerziehende Mütter, Leiharbeiter und andere Verlierer des Maximalprofitkarussels.

Mit 19 Jahren kommt Dietmar Krone in die Freiheit – ohne Netz und Boden. Er hat nicht schlechthin eine Autobiographie geschrieben – es ist eine Anklageschrift. Authentischer geht es nicht.

 

Dietmar Krone: Albtraum Erziehungsheim. Die Geschichte einer Jugend, Engelsdorfer Verlag Leipzig, 2007, 145 Seiten, ISBN 978-3-86703-323-7, 10,00 EUR, Taschenbuch, Format: 19x12

Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung

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