Freitag, 17. Mai 2013

Tränen des Vaterlandes / Anno 1636

"Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina“ – Von Petra Wild

Tränen des Vaterlandes

Buchtipp von Harry Popow

"Tränen des Vaterlandes"…so der Titel eines Antikriegsgedichtes, geschrieben von Andreas Gryphius unter dem einschneidenden Eindruck des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Darin heisst es:
 
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfraun sind geschändt, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

"Tränen des Vaterlandes"… so die Überschrift dieser Rezension zu einer Anklageschrift, die sich dem Völkermorden gegenüber den Palästinensern widmet. Über 300 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den Greueln der Weltkriege nun dies: Es geht nicht ab mit nur dreißig Jahren – seit 65 Jahren (seit dem 08. Mai 1948) währt der Würgegriff israelischer Politik gegenüber den Palästinensern innerhalb der Grenzen Israels und in den 1967 besetzten Gebieten. Jenen, die unter dem Deckmantel des Zionismus und der Bibel aus ihren angestammten Landstrichen gewaltsam aus ihren Häusern, Dörfern und ihrem Land vertrieben, gelyncht, ausgehungert und ermordet, die enteignet und ihrer wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen beraubt wurden, deren Geschichte ausgelöscht werden soll, die systematisch diskriminiert werden.

„Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“, so der Titel eines politischen Sachbuches von Petra Wild. Geboren 1963 in Aarbergen/Hessen, studierte sie arabische Sprache und Islamwissenschaften in Jerusalem, Leipzig, Damaskus und Berlin. Sie arbeitet als freiberufliche Publizistin vor allem zur Palästina-Frage und zur Arabischen Revolution.

Wie bereits Evelyn Hecht-Galinski in ihrem Buch „Das Elfte Gebot: Israel darf alles“ sowie antizionistische und fortschrittliche kritische Juden Israels, Publizisten und Palästina-Unterstützer aller Herren Länder, so beschreibt auch Petra Wild die unter unmenschlichen Bedingungen hausenden Palästinenser in der Grünen Linie, in der Westbank, im Gaza-Streifen und in Ost-Jerusalem. So heißt es zum Beispiel auf Seite 47: „Während die jüdisch-israelische Bevölkerung insgesamt denselben Lebensstandard hat wie jene der westlichen kapitalistischen Länder, leben die palästinensischen Staatsbürger Israels unter Dritte-Welt-Verhältnissen.“ Angeführt werden u.a. eine schlechtere Gesundheitsversorgung, eine höhere Säuglingssterblichkeit, eine schlechtere Bezahlung, eine Benachteiligung bei Serviceleistungen, ein Leben unter der Armutsgrenze, ein Ausgeschlossensein aus dem öffentlichen Nahverkehrsnetz. Die Palästinenser werden „als nicht zum Lande gehörend, als unzivilisiert, rückständig, primitiv, faul, dreckig, dumm, gewalttätig und fanatisch dargestellt“. (S. 74) Sie seien gesichtslose Feinde, Terroristen. (S.78) Alle Maßnahmen, so die Autorin, zielen darauf ab, den Willen der Palästinenser zu brechen und ihnen die Hoffnung zu rauben. Dazu zählen Erschwernisse des täglichen Lebens, Schikanen, Kollektivstrafen, gewaltsames Niederschlagen von Demonstrationen, hohe Haftstrafen, die Zerstörung von Häusern und ganzen Stadtvierteln, Wasserentzug, Zerstörung der Olivenbäume, Psychoterror, gezieltes Morden an Widerstandskämpfern sowie Kriege und Massaker gegen die Zivilbevölkerung. „Die Projektion des Hasses auf die Palästinenser ermöglicht die Bewahrung des selbstgerechten israelischen zionistischen Selbstbildes als moralisch rein und dient als zusammenhaltende Kraft in der jüdisch-israelischen Gesellschaft.“ (S. 78) Bei allem  offensichtlichen Landraub – es gäbe keine Massenvertreibungen, keine großen militärischen Aufgebote, es ist vielmehr ein schleichender Prozess, so Petra Wild. (S. 137)

Auf den 240 Seiten und in zwölf Kapiteln spiegelt sich anhand von konkreten Beispielen und bewegenden persönlichen Schicksalen, Zitaten und Kommentaren das Leben eines Volkes wider, das seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 um seine Rechte kämpft. Es geht um die Ghettoisierungspolitik in der Westbank, die ethnische Säuberung des Jordantals, die Gewalt der kolonialen Siedler sowie die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung und die Zerstörung der historischen Stadt Jerusalem. Petra Wild kommt es insbesondere darauf an, neue Aspekte der Willkürakte des Staates Israel hervorzuheben. Es geht nicht nur um eine Neuauflage der in Afrika einst berüchtigten Apartheid, nicht nur um die ethnische Säuberung, nicht nur um schleichenden Genozid, sondern zusammenfassend um den zionistischen Siedlerkolonialismus. Er strebt danach, so Petra Wild in der Einleitung, „die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen“. (S. 9)

Anfangs geht die Autorin gründlich auf den Ursprungs des Konfliktes ein. Sie definiert den Siedlerkolonialismus als eine spezifische Form des Kolonialismus, der auf dem Raub des Landes und der Ressourcen durch Siedler besteht. Zur Legitimation bediene man sich eines ausgeprägten Rassismus, motiviert durch „die Einteilung der Menschen in höhere, zum Herrschen bestimmte und niedere, ihnen unterworfene Rassen“. (S. 12) Der Zionismus, der als Aushängeschild für die Alleinherrschaft der Juden benutzt wird, schreibt Wild, entstand Ende des 19. Jahrhunderts im europäischen jüdischen Kleinbürgertum. Er definierte Judentum nicht mehr nur als Religionsgemeinschaft, sondern als Volk bzw. Nation. „Da die Zionisten die Prämisse der Antisemiten übernahmen, dass Juden und Nicht-Juden nicht zusammenleben könnten, sahen sie die Lösung (…) in der Gründung eines eigenen Nationalstaates außerhalb Europas.“ (S. 12) Ihren Anspruch auf das Land Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte, begründeten die zionistischen Siedler damit, „dass sie nicht in ein neues Land kämen (…), sondern nach einem verlängerten Auslandsaufenthalt einfach nach Hause zurückkehrten; die Einheimischen wären die eigentlichen Fremden“. (S. 13) Man greife in der israelischen Geschichtsschreibung auf eine sich ergebende fundamentalistische Bibelauslegung zurück, „der zufolge Palästina das Land der Juden und nur der Juden war und nun – 3.000 Jahre später – wieder ist“. (S. 34) Welche sind die Hauptursachen für die Zuspitzung der Konflikte, der Auseindersetzungen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten? Darauf gibt die Autorin folgende Antwort: Es seien „immer der Kampf um Land und Ressourcen“. (S.205)

Obwohl unterschiedliche Bevölkerungsteile in Israel leben, definiert sich der Staat als Staat der Juden, also als Staat einer übernationalen Religionsgemeinschaft. Allerdings schließe die „religiös-ethnische Definition des Staates anstelle einer territorialen (…) die Integration und Gleichberechtigung nicht-jüdischer Bevölkerungsteile strukturell aus“, schreibt die Autorin. (S. 22)  Sie verweist auf zahlreiche Tricks und Verschleierungen des Staates Israel, die es ihm ermöglichen, sich aus Gesetzen mit eindeutigem Apartheidcharakter herauszuhalten. Man lagere beispielsweise staatliche Funktionen an internationale zionistische Organisationen aus. So würde eine Arbeitsteilung bestehen und das demokratische Image in der westlichen Welt gewahrt bleiben. (S. 40) Der Kern der zionistischen Politik in Palästina sei die fortgesetzte „Judaisierung“, die als Hauptideologie Vorrang vor den formalen Bekenntnissen zur Demokratie habe. (S.55) Der koloniale Blick auf die einheimische Bevölkerung werde von oben her durch die ideologischen Staatsapparate, Politiker, Militärs und Rabbiner verbreitet. Zudem bediene sich das religiöse Recht einer Herrenmenschen-Rhetorik, die sie mit den Heiligen Schriften begründet. (S.76) Außer Acht dürfe nicht gelassen werden, dass die eigene Leidensgeschichte der Juden zu einer stark ausgeprägten Selbstgerechtigkeit der Siedlerbevölkerung führe. (S.77) Verwiesen wird auf Seite 82 auf einen seit dem Krieg gegen den Gazastreifen verschärften Rassismus, sodass kritische Israelis vor einem heraufziehenden Faschismus warnen, (S. 82) wobei der Kolonialismus seinem Wesen nach zum Faschismus neigt. (S. 88)

Welche Lichtblicke öffnet uns die Anklageschrift? Im Gespräch ist eine Ein-Staat-Lösung. Im Vordergrund stünden die Erlangung der Rechte der einheimischen Bevölkerung. Das Konzept ziele darauf ab, „den kolonialen Charakter des gegenwärtigen Staates Israel aufzuheben“ und den Nationalismus zurückzudrängen, um so die Möglichkeit für ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu eröffnen. (S. 215) Das setze die Überwindung des Zionismus voraus. (S. 217) Von „Innen“, das wird klar, ist durch Verhandlungen keine Lösung zu erwarten. Daran hat die zionistische Seite kein Interesse. Da der Staat Israel in der schlimmsten Krise seiner Geschichte stecke, sei die arabische antiimperialistische Einheit sowie u.a. die Schwächung der USA in der Region und die Entwicklung einer starken internationalen Solidaritätsbewegung vonnöten, so die Autorin auf Seite 222. Von entscheidender Bedeutung sei der revolutionäre Prozess in der arabischen Welt. Interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung des israelischen Historikers Moshe Zuckermann (junge welt vom 26./27. Januar 2013): Der Zionismus rechtfertige „die Abneigung des jüdischen Kleinbürgers gegen seinen nichtjüdischen Konkurrenten und erlaubt es ihm zugleich, (…) gegen die Verfolgung Stellung zu nehmen, ohne sich gegen das kapitalistische System zu wenden, das ihm gewisse Vorteile sichert“. Damit wäre auch dies ausgesprochen: Nichts geht, ohne den Machtanspruch der herrschenden Elite in den Fokus zu nehmen.

Das Buch der Petra Wild ist eine sehr faktenreiche und lesenswerte Analyse. Vor allem Studenten, deutsche Politiker und politisch Interessierte mögen die zahlreichen Belege für die menschenverachtende Vertreibungspolitik Israels genau sichten und zu eigenen Schlußfolgerungen gelangen lassen. Zu fragen ist auch, wie die Machtverhältnisse im imperialistischen Israel beschaffen sind, die auf die Geschichte und vor allem auf die Lösung der Konflikte einwirken könnten. Man denke dabei an jüdisch-israelische Aktivisten, an mehrere Tausend von antizionistischen oder zionismuskritischen Israelis (S. 213), von denen Petra Wild schreibt. Sie wollen „den Boden für das Zusammenleben in einem gemeinsamen demokratischen Staat bereiten". Ohne Siedlungskolonialismus, ohne Aggressionsbereitschaft gegenüber anderen Ländern, ohne dass „Tränen des Vaterlandes“ vergossen werden müssen, ohne Verstöße gegen die Menschlichkeit, die auch Andreas Gryphius im letzten Vers beklagt: 

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.

Petra Wild: „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“, 2013 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien, ISBN 978-3-85371-355-6, br., 240 Seiten, 15,90 Euro, mit Landkarten

Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19007

 


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