Mittwoch, 6. Mai 2015

Generaloberst a.D. Horst Stechbarth warnt vor Krieg

(Entnommen: https://www.jungewelt.de/2015/05-06/006.php)

Aus: Ausgabe vom 06.05.2015, Seite 3 / Schwerpunkt

»Und schon haben wir den dritten Weltkrieg ...«

Der frühere Chef der DDR-Landstreitkräfte warnt angesichts der Ukraine-Krise vor einer militärischen Eskalation in Europa. Ein Gespräch mit Horst Stechbarth

(13.04.1925 - 08.06.2016)

Interview: Peter Wolter

Früher gehörte Rumänien zum Warschauer Vertrag – mittlerweile üben die Streitkräfte des Landes gemeinsam mit NATO-Truppen (21. April 2015)
Foto: AP Photo/Octav Ganea

Horst Stechbarth ist Generaloberst a. D. der vor 25 Jahren aufgelösten Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Von 1972 bis 1989 war er Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef der Landstreitkräfte. Er hat am 13. April seinen 90. Geburtstag gefeiert.

Der Sieg über den deutschen Faschismus vor 70 Jahren hat Europa viele Jahrzehnte des Friedens beschert. Der ist jetzt bedroht. Der Schriftsteller Günter Grass hat angesichts des Ukraine-Konflikts kurz vor seinem Tode noch gewarnt, dass ein dritter Weltkrieg bevorstehen könne. Wie sehen Sie das?

Da muss ich ein wenig ausholen. Wie ist man mit der russischen Führung nach der Wende umgegangen? Man hatte ihr versprochen, die NATO werde nicht nach Osten erweitert, Länder des Warschauer Vertrages würden nicht in das Bündnis aufgenommen. Und was ist geschehen? Schritt für Schritt rückte die NATO an die Grenze Russlands heran. Dann kam noch der Raketenschild hinzu. Man glaubte, man könne mit dem russischen Partner umgehen, wie man will. Dazu wäre es auch gekommen, wenn Boris Jelzin Präsident geblieben wäre. Wladimir Putin hat schließlich das Ruder übernommen, in kurzer Zeit Jelzins Schulden bezahlt und gesagt: Wir machen jetzt unsere eigene Politik.

Das passte natürlich nicht in die Strategie des US-Imperialismus hinein. Putin wurde von Anfang an mit Distanz behandelt. Hinzu kommt, dass schon lange vorher die Ukraine als eine Art Zwischenstaat ausgesucht worden war, als Kandidat für die Einbeziehung in die NATO. Und während im vergangenen Jahr die Lage in der Ukraine eskalierte, kam die Sache mit der Krim hinzu. Diese Halbinsel war in den 50er Jahren vom damaligen Staats- und Parteichef der UdSSR, Nikita Chruschtschow, an die Ukraine verschenkt worden. Wäre Putin nicht auf das Unabhängigkeitsbegehren der Krimbewohner eingegangen, dann wäre heute die NATO-Flotte in den Stützpunkten, die Russland von der Ukraine gepachtet hatte. Die Südflanke des Landes wäre damit weiter geschwächt. Putin konnte gar nicht anders handeln, er wäre sonst nicht mehr Staatspräsident. Die Bevölkerung hätte ihm das niemals verziehen.

Und jetzt geht es um den Ostteil der Ukraine, da leben ja auch Russen. Auf der anderen Seite stehen die ukrainischen Faschisten, mit den Bandera-Leuten vorneweg. Das wiederum sind Russenhasser. Ich verstehe schon, dass Putin seine Brüder, die jetzt unter Beschuss stehen, nicht im Stich lässt.

Welche Strategie verfolgt der Westen dabei?

Der US-Imperialismus glaubte, er könne Putin beseitigen, Russland zerstückeln und seinem Ziel näherkommen, auf dessen Rohstoffe zugreifen zu können. Das hat Putin erst einmal vereitelt, deshalb trifft ihn der geballte Hass. Es ist gelungen, viele Nachbarstaaten Russlands auf NATO-Position zu bringen. Was noch fehlte, war die südliche Flanke mit dem Schwarzen Meer und der Krim. Und da hat Putin dem Westen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Lage ist brenzlig: Die NATO besteht aus 28 Staaten, wenn nur einer von denen in einen Konflikt mit Russland verwickelt wird, sind alle anderen laut Vertrag zum Beistand verpflichtet. Und schon haben wir den dritten Weltkrieg. Der kann nur verhindert werden, wenn die Völker aufstehen und sagen: Russland hat im Zweiten Weltkrieg schon genug Tote zu beklagen gehabt, wollt ihr schon wieder einen Krieg anfangen? Deswegen ergreifen jetzt Militärspezialisten wie ich mit dem Aufruf der NVA-Generäle das Wort. Wir warnen vor dem Krieg!

In dem von mir herausgegebenen Buch »Soldat im Osten« hatte ich einen Fehler zugelassen, leider habe ich den zu spät bemerkt: Ich hatte den Frauen der Berufssoldaten zu wenig Platz eingeräumt. Die Familien mußten angesichts der vielen Versetzungen zehn- oder zwölfmal umziehen, immer lag es in den Händen der Frauen, das alles zu bewältigen. Und da habe ich mir gesagt: Den Fehler musst du gutmachen, zu deinem 90. Geburtstag lädst du die Frauen mit ein, um ihnen ein Dankeschön für ihre Lebensleistung auszusprechen. Sie haben ihren Männern den Rücken freigehalten für deren schweren Dienst in der NVA, sie haben ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts geleistet, dass es also zu keiner kriegerischen Auseinandersetzung kam.

Gesetzt den Fall, die apokalyptischen Befürchtungen von Günter Grass würden wahr: Was bliebe von Mitteleuropa übrig?

Das Reaktorunglück von Tschernobyl hat ein Warnzeichen gesetzt, es hat uns gezeigt, welches Gefährdungspotential durch eine radioaktive Verseuchung gegeben ist.

Foto: jW Archiv

Europa würde die Hauptlast eines Krieges tragen, und bei Einsatz von Kernwaffen würde unser Kontinent nicht mehr als Lebens- und Wirtschaftsraum existieren. Dies ist ein unvorstellbar schreckliches Szenario, ich wundere mich, dass die Öffentlichkeit so wenig sensibilisiert ist.

Sie waren als Generaloberst Chef der Landstreitkräfte, es dürfte kaum jemanden geben, der die militärische Leistungsfähigkeit der DDR besser beurteilen kann. Gab es eine Besonderheit, die die NVA von anderen Armeen unterschied?

Unsere Soldaten waren militärisch besser geschult. Ein Beispiel: Als ich im Verteidigungsministerium für den Bereich Ausbildung verantwortlich war, hatte ich die Möglichkeit, auf Programme und Vorschriften zur Gefechtsausbildung Einfluss zu nehmen. Wenn wir neue Vorschriften aus der Sowjetarmee übernehmen sollten, habe ich mir mit Hilfe der Verwaltung Aufklärung die entsprechenden NATO-Regelungen kommen lassen. Wenn es darin z. B. hieß: Nach der Zieleinweisung muss der Panzer nach zehn Sekunden den ersten Schuß abgeben, habe ich in unsere Fassung reingeschrieben: Nach neun Sekunden.

Eigentlich wollte ich ja kein Gewehr mehr in die Hand nehmen – aber nachdem die Bundeswehr in die NATO eingegliedert worden war, sah das für mich anders aus: Wir mussten besser als die NATO-Armeen sein, damit es keinen Krieg gibt. Das ist uns auch weitgehend gelungen.

Im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die 1975 in Helsinki zum Abschluss kam, war vereinbart worden, dass beide Seiten als vertrauensbildende Maßnahme alle größeren Manöver anmelden und Beobachter der jeweils anderen Seite zulassen. Als ich dem Minister einmal meine Manöverplanung vorstellte, ermahnte er mich: »Junge, zeig nicht alles!« Innerlich sagte ich mir aber: Nein, du musst alles zeigen, damit sie wissen, dass mit uns nicht gut Kirschen essen ist.

Was konnte die NVA, was die Bundeswehr nicht konnte?

Als die Bundeswehr die NVA übernahm, haben deren Offiziere nicht schlecht gestaunt, 80 Prozent unserer Panzer waren nämlich aufmunitioniert – der Rest waren Lehrgefechtsfahrzeuge, die wenig später einsatzbereit gewesen wären. Im Kriegsfall wären wir in einer halben Stunde aus den Kasernen heraus gewesen und in den Konzentrierungsraum gefahren. Wir hätten aus dem Stand heraus Krieg führen können. Das hat viele Bundeswehr-Offiziere ziemlich erschreckt, als sie unsere Bestände übernahmen.

Wie gespannt die Situation bisweilen war, sieht man daran, dass die NATO an der Grenze zur DDR einen Gürtel von Atomminen angelegt hatte. Damals wurde auf der Generalstabsakademie in Moskau noch gelehrt: Panzer her und durch! Die wären dann durch die Atomzone hindurch in die Tiefe des Raumes hineingerollt.

Die in der DDR stationierte Sowjetarmee war übrigens genauso vorbereitet wie wir. Alle Gefechtsfahrzeuge waren aufmunitioniert. Auch die polnischen Streitkräfte konnten sich durchaus mit unseren vergleichen. Bei den Armeen der anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages sah das schon ein wenig anders aus.

Die DDR hat viele Befreiungsbewegungen in aller Welt unterstützt. Sind dabei auch Soldaten der NVA zum Einsatz gekommen?

Wir hatten viele Kontakte zu Streitkräften außerhalb unseres Bündnisses, zu denen in Kuba etwa oder in Vietnam. Auch zu denen in Ägypten, Irak, Syrien, Angola. Wir haben einen Teil der Offiziere ausgebildet, schließlich wurde in Prora für diesen Zweck die »Offizierschule Otto Winzer« gegründet. In Vietnam haben wir ein Ausbildungszentrum eingerichtet, ich habe mir das selbst an Ort und Stelle angesehen. Außerdem wurden Spezialisten von uns für den Aufbau eines Zentrums zur Dekontamination von Giftgas in den Irak geschickt. Ansonsten wurde niemand im Ausland eingesetzt.

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